Eine tiefe Grube ist der Mund von fremden Frauen; wem der HERR zürnt, der fällt hinein.
In vielen modernen/evangelikalen Kommentaren wird hier so erklärt, dass es sich auf das potentiell unkeusche Verhalten von jungen Männern bezieht, die durch die Küsse einer Frau verführt werden können.
Oder es wird gesagt, hier ginge es um Huren, die die Männerwelt verdrehen…Zwei Beispiele:
Das soll alle jungen Menschen vor sexueller Unmoral warnen. Wenn sie an das Wohlergehen ihrer Seele denken, sollen sie sich vor dem Mund fremder Frauen hüten, vor den Küssen ihrer Lippen, ihrem verführerischen Charme. Fürchten Sie sich vor ihnen, haben Sie nichts mit ihnen zu schaffen.
Matthew Henry, 17. Jahrhundert
Und
Die verführerischen Worte einer Hure verbergen eine Falle, aus der es kaum ein Entkommen gibt.
William MacDonald, 20. Jahrhundert
Habe ungefähr nen halbes Dutzend Kommentare der letzten paar hundert Jahre (bin bis etwa 300 Jahre zurückgegangen) durchgesehen, der Ton geht fast immer in dieselbe Richtung, mal saftiger, mal weniger saftig.
Aber hier mal eine, wie so oft, überraschend moderne Auslegung eines Kirchenvaters, Ambrosius:
Der Mund desjenigen, der schlecht redet, ist eine große Grube, ein steiler Abgrund für den Unschuldigen, aber noch steiler für den Böswilligen. Ein Unschuldiger, der leichtgläubig ist, fällt schnell, aber wenn er gefallen ist, steht er wieder auf. Der Verleumder wird durch seine eigenen Taten kopfüber in den Abgrund geschleudert, aus dem er nie wieder auftauchen oder entkommen wird.
Ambrosius von Mailand (339-397), 4. Jahrhundert
Ist es nicht interessant, dass hier das Geschlecht gar keine Rolle spielt? In gewisser Weise hat Ambrosius aufgeklärter ausgelegt, als viele der Ausleger der letzten Jahrhunderte…