Nennt nicht alles Verschwörung, was dieses Volk Verschwörung nennt, und vor dem, was es fürchtet, fürchtet euch nicht und erschreckt nicht davor! 13 Den HERRN der Heerscharen, den sollt ihr heiligen; er sei eure Furcht und euer Schrecken! 14 So wird er [euch] zum Heiligtum werden;
Jesaja 8,12-14a
Man kann auch heute noch beobachten, wie die Furcht einen für wohlbekannte ethische und religiöse Verpflichtungen blind machen kann. Eine zwanghafte Beschäftigung auch mit legitimen Ängsten kann dazu führen, dass man Gottes Forderungen in jedem Bereich des Lebens – in der Politik, der Wirtschaft, der Religion oder in alltäglichen Beziehungen – aus den Augen verliert. Jesajas Lösung für diese Bedrohung besteht darin, Gott als denjenigen zu heiligen, den man vor allem anderen achtet und fürchtet. Wenn Gott das ultimative Objekt der eigenen Angst/Furcht ist, kann man in Politik und Wirtschaft ehrlich, in der Religion treu und in Alltagssituationen rücksichtsvoll und liebevoll bleiben, auch wenn diese Situationen mit echten Gefahren verbunden sind.
J. J. M. Roberts, First Isaiah: A Commentary, hg. von Peter Machinist, Hermeneia (Minneapolis, MN: Fortress Press, 2015), 137, Übersetzung von mir
In der Tat sagt Jesaja, dass Gott in solchen Situationen unser Heiligtum werden wird (8,14a). Viele Kommentatoren berichtigen/relativieren das Wort Heiligtum in diesem Vers, weil es so scharf mit dem kollidiert, was im Rest des Verses über Gott gesagt wird, aber es gibt keine überzeugenden textlichen Beweis für eine solche Änderung, und man kann davon ausgehen, dass die harte Gegenüberstellung genau so beabsichtigt ist. Uralte Tempel waren Orte des Asyls oder der Sicherheit, so dass die Bezugnahme auf Gott als Heiligtum gleichbedeutend damit ist, ihn als Zufluchtsort zu bezeichnen.
Hier geht es nicht um Furcht im Sinne einer hemmenden Angst. Wenn das so wäre, würde hier nicht von gesprochen werden, dass die Furcht vor Gott das ist, was wir statt irgendwelcher Verschwörungstheorien betrachten sollen. Denn das wäre bei einer “Angst” ja ein Stillstand – starr vor Angst? Das soll ein Ausweg sein? Nein – bestimmt nicht. Gemeint ist hier, wie an vielen Stellen, “Anerkennen der Autorität Gottes”.
Aber es geht auch noch weiter. Dadurch, dass Gott zu unserem Heiligtum wird, wird Gott im Grunde deutlich erkennbar, er bietet sich als gut sichtbaren und wahrnehmbaren Ausweg an. Wir sollen nicht vor lauter Angst und verschwörungstheoretischer Verwicklung stillhalten und nicht mehr wahrnehmen, was richtig und anständig ist – durch den Fokus auf Gott/das Heiligtum haben wir wieder die Freiheit gewonnen, die Situation im Hier und Jetzt so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist und können (und sollen) entsprechend handeln.
Ich übersetze mir das mit “Hand reicht einem die Hand”. In schwierigen, sehr belastenden und unübersichtlichen Situationen müssen wir im Grunde nur zugreifen. Unser Blick auf Ihn richtet uns wieder aus, die Unterordnung unter ihn nimmt uns die Angst im Hier und Jetzt – denn sich ihm unterzuordnen, ihn zu fürchten ist das, was schlussendlich alles andere dominiert.
Bild: Olesya Yemets